Legasthenie

Definition,Symptomatik, Diagnostik und Ursachen der Legasthenie

 

In dem nachfolgenden Abschnitt werden zentrale Fragen zu Symptomatik, Diagnostik und Ursachen der Legasthenie dargestellt. Die Auswahl und Darstellung der Themen orientiert sich an den von Betroffenen, Eltern und Lehrern am häufigsten gestellten Fragen.

 

Was ist Legasthenie?

Die Legasthenie ist eine ausgeprägte und schwerwiegende Störung beim Erlernen des Lesens und/oder der Rechtschreibung, die in Besonderheiten von Hirnfunktionen begründet ist. Diese Teilleistungsstörung ist veranlagt und nicht die Folge unzureichenden Schulunterrichts, mangelnde Intelligenz oder mangelnder Lernbereitschaft und nicht die Folge irgendwelcher sonstigen körperlichen, neurologischen oder psychischen Erkrankungen.Diese Definition entstammt dem ICD 10 – Katalog der Welt-Gesundheits-Organisation (International Classification of Diseases in seiner 10. Überarbeitung), nach dem weltweit Krankheiten und Behinderungen erfasst werden. Sie findet sich dort im Kapitel F81.1)

 

Wie erkenne ich, ob ein Kind eine Legasthenie hat?

Es gibt sehr unterschiedliche Probleme, die auf das Vorliegen einer Legasthenie hinweisen können. Im Vordergrund stehen Probleme beim Verschriften von Wörtern und Erlesen von einzelnen Buchstaben und Wörtern.

Beim Rechtschreiben in den ersten drei Schuljahren haben die Kinder große Schwierigkeiten, einzelne Buchstaben zu unterscheiden und zu schreiben. Trotz Unterstützung fällt es den Kindern besonders schwer, für das gehörte Wort die richtigen Buchstaben zu finden. Einzelne Buchstaben werden weggelassen oder auch zusätzlich eingefügt. Z. B. wird anstatt “Haus” nur “Has” geschrieben, anstatt “Sonne” nur “Sne”. Zum Teil werden nur Wortruinen verschriftlicht, wie zum “lmnof” für “Blumentopf”. Auch das Abschreiben aus einem Buch oder von der Tafel gelingt nicht fehlerfrei. Zusätzlich ist oft die Handschrift unleserlich.

Beim Lesen fällt es den Kindern schwer, die einzelnen Laute zu verbinden. Zum Beispiel wird beim Wort Sonne nur der Anfang “So” lautiert, das Zusammenfügen mit den nachfolgenden Lauten mißlingt jedoch. Insgesamt ist die Lesegeschwindigkeit erheblich herabgesetzt, einzelne Wörter werden mit großer Mühe nacheinander gelesen und der Sinn des Satzes wird häufig nicht verstanden.

 

Wie wird eine Legasthenie festgestellt?

Um festzustellen, ob bei einem Kind eine Legasthenie vorliegt, sollte eine eingehende Diagnostik durchgeführt werden. Hierzu gehören folgende Testverfahren:

■Ein standardisierter Rechtschreibtest

■Ein standardisierter Lesetest

■Ein standardisierter Intelligenztest

 

Zusätzlich zur Testdiagnostik wird ein ausführliches Gespräch über die Entwicklung des Kindes seit der Geburt und über die familiäre Situation durchgeführt. Anhand eines Schulberichtes werden der Leistungsstand im Lesen und Rechtschreiben sowie die Verhaltensweisen des Kindes im Unterricht beschrieben. Im Rahmen der ärztlichen Diagnostik werden auch Hör- und Sehfunktionen überprüft: Um auszuschließen, dass die Legasthenie nicht durch eine periphere Sehstörung verursacht ist, wird ein Sehtest durchgeführt. Wenn Kinder wiederholt berichten, dass ihnen beim Lesen die Buchstaben verschwimmen, dass es schwierig ist, den Satzanfang zu finden oder dass ihre Augen die Buchstaben in einer Zeile verlieren, sollte eine eingehende orthoptitische Untersuchung durchgeführt werden. Solche Untersuchungen werden allerdings nicht überall angeboten.

 

Wer stellt die Legasthenie fest?

Die Diagnose einer Lese-Rechtschreibstörung wird durch Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie gestellt. Aufgrund der verschiedenen Untersuchungsebenen kann die Diagnostik der Legasthenie nur interdisziplinär erfolgen. Die Kooperation aller Beteiligten ist unbedingt zu empfehlen. Eine wesentliche Bedeutung kommt hierbei der Schule zu. Allerdings kann in der Schule nur ein Teil der Diagnostik durchgeführt werden. Dieser Teil der Diagnostik umfasst die genaue Beobachtung und Beschreibung des Lernstandes im Lesen und Rechtschreiben. Zusätzlich sollten unbedingt die oben genannten standardisierten Lese- und Rechtschreibtests durchgeführt werden. Anhand dieser Testverfahren ist die Einordnung des Leistungsstandes eines einzelnen Kindes im Vergleich zu der Leistung der entsprechenden Klassenstufe möglich.

Die Lese- und Rechtschreibtests werden teilweise in der Schule durchgeführt, größtenteils aber in speziellen Beratungsstellen, bei schulpsychologischen Diensten oder Ärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.

 

Was sind die Ursachen der Legasthenie?

Es werden sehr verschiedene Ursachen der Legasthenie angenommen. Die neurobiologisch orientierte Forschung der letzten Jahre hat zu einem deutlichen Erkenntnisgewinn in Bezug auf die zentralnervöse Verarbeitung von auditiver und visueller Information bei der Lese-Rechtschreibstörung geführt. Durch die neuen Methoden der genetischen Forschung sind mögliche Genorte, die wahrscheinlich für die Entstehung der LRS relevant sind, gefunden worden. Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren erscheint zur Zeit ein plausibles Erklärungsmodell für die LRS zu sein.

 

Genetische Disposition

Familienuntersuchungen in den USA, England und der BRD haben gezeigt, dass die Lese- und Rechtschreibstörung familiär gehäuft auftritt (Schulte-Körne 2001a). Die Rate der betroffenen Geschwister und betroffenen Eltern liegt zwischen 40 und 50%. Dies allein würde allerdings nicht ausreichen, um von einer genetischen Disposition zu sprechen. Erst der Vergleich von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen ermöglicht die Abschätzung des genetischen Einflusses. Dieser liegt für die Rechtschreibstörung bei 60%, für die Lesestörung um 50%. Die Suche nach relevanten Genen hat zu verschiedenen sogenannten “Kandidaten-Gen-Regionen” geführt. Diese finden sich auf den Chromosomen 1, 2, 6, 15 und 18. In diesen Regionen vermutet man Gene, die eine wichtige Funktion bei der Regulation von zentralnervösen Prozessen spielen. Die aktuelle Forschung in der BRD zu den neurobiologischen und genetischen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung (unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) wird dazu beitragen, eine besseres Ursachenverständnis der Lese-Rechtschreibstörung zu erlangen. Die damit verbundene Hoffnung ist, aufgrund eines spezifischeren Ursachenverständnisses spezifischere Behandlungsformen zu entwickeln.Großhirns (linker temporo-parietaler Bereich), die im Wesentlichen bei der Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen und Lauten aktiviert werden, bei Lese- und Rechtschreibgestörten signifikant geringer aktiviert werden (Paulesu et al. 2001, Rumsey et al. 1997, Georgiewa et al. 2002).

Die Bedeutung der gestörten Sprachwahrnehmung und der phonologischen Verarbeitung liegen in folgenden Überlegungen: Das Sprachwahrnehmungsdefizit ist bereits in den ersten Lebensjahren vorhanden und könnte einen wesentlichen Prädiktor für den gestörten Schriftspracherwerb darstellen. Möglicherweise stellen diese Befunde eine Grundlage für eine Frühdiagnostik und Frühförderung dar.

Das phonologische Verarbeitungsdefizit, gemessen zum Ende der Kindergartenzeit, lässt eine rechte gute Vorhersage des Erfolgs im Schriftspracherwerb zu (Jansen et al. 2002). Vorschulische Förderung von phonologischen Fähigkeiten wirkt sich positiv auf den Schriftspracherwerb der ersten drei Grundschuljahre aus (Schneider et al. 1998). Inwieweit die Förderung von phonologischen Fertigkeiten über die Kindergartenzeit hinaus zu einer Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistung führt, ist für die deutsche Schriftsprache noch zu zeigen. Die Befunde hierzu sind widersprüchlich.

 

Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung

Zu den Störungen der zentralen auditiven Wahrnehmung gehören die Wahrnehmung von nichtsprachlichen und die Wahrnehmung von sprachlichen Reizen. Im Vordergrund der Forschung der letzten Jahre stand die sogenannte “Phonologie-Defizit-Hypothese”. Diese besagt, dass bei der Lese-Rechtschreibstörung die Fähigkeit, lautliche Segmente der Sprache zu unterscheiden und im Gedächtnis zu speichern, gestört ist (Schulte-Körne 2001b). Daher haben die Betroffenen auch große Probleme, den einzelnen Buchstaben die entsprechenden Laute und umgekehrt den Lauten die Buchstaben zuzuordnen. Neurobiologische Untersuchungen konnten zeigen, dass Regionen des Großhirns (linker temporo-parietaler Bereich), die im Wesentlichen bei der Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen und Lauten aktiviert werden, bei Lese- und Rechtschreibgestörten signifikant geringer aktiviert werden (Paulesu et al. 2001, Rumsey et al. 1997, Georgiewa et al. 2002). Dies bedeutet, dass hirnorganische Korrelate für die gestörte Sprachwahrnehmung vorliegen.

 

Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung

Die Bedeutung der zentralen visuellen Wahrnehmung ist im Vergleich zur auditiven Wahrnehmung als Ursache der Lese-Rechtschreibstörung geringer einzuschätzen. Neurobiologische Untersuchungen zeigten, dass der occipitale und temporale Cortex bei Lese-Rechtschreibgestörten im Vergleich zu Kontrollpersonen verzögert und geringer aktiviert wird, wenn Wörter und Pseudowörter gelesen wurden (Salmelin et al. 1996). Diese Befunde zeigen, dass Wort- bzw. Buchstabeninformationen in spezifischen Hirnarealen bei den Lese- Rechtschreibgestörten deutlich verzögert und ineffektiver wahrgenommen werden. Ferner finden sich wiederholt Hinweise, dass spezifische Funktionen von Neuronen des sogenannten großzelligen Systems, das durch sich bewegende Reize aktiviert wird, bei der LRS gestört sind (Cornelissen et al. 1998, Schulte-Körne et al. 2003a). Die Bedeutung solcher basaler visueller Wahrnehmungsdefizite für die LRS ist zur Zeit noch nicht vollständig aufgeklärt.

 

Störungen des Lernens und des auditiven Gedächtnisses

Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine Lernstörung, die auf neurobiologische Funktionsstörungen zurückgeführt werden kann. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass bereits die neurobiologischen Korrelate des Lernens, wie die Speicherung von Wörtern, bei der LRS verändert sind (Schulte-Körne et al. 2003b).

Auch bei Aufgaben, die eine aktive Speicherung von Lauten erfordern, zeigt sich eine deutliche Minderleistung bei der LRS. Diese Speicherschwäche tritt selektiv nur bei Lauten und Buchstaben auf, nicht bei nichtsprachlichem Material (wie z. B. graphischen Mustern). Das bedeutet, dass bei der LRS eine spezifische Gedächtnisschwäche für schriftsprachliches Material vorliegt.

 

Quelle: KJP München

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